Sind die “Spielfiguren” in diesem Spiel wirklich die, die ich als Zuschauer am Anfang glaube gesehen zu haben?
2) Stichwort GEHEIMNIS: Eine falsche Identität leistet für eine serielle Erzählungen grossartige Dienste, denn sie garantiert über weite Strecken eine subtile, etwas unheimliche Spannung— einen doppelten Boden, den man als Zuschauer fortwährend durchspürt. Es muss nicht immer eine falsche oder versteckte Identität sein. Manchmal reicht auch ein verschwiegenes Ereignis (oder mehrere) aus der Vergangenheit. Als Zuschauer kann ich erahnen, dass hier irgendetwas nicht stimmt, aber ich weiss noch nicht was. Also muss ich weiterschauen. Daneben erhöht sich für den Charakter, mit dem wir uns identifizieren, von Folge zu Folge die Fallhöhe ( “LITTLE FIRES EVERYWHERE”) oder sogar von Staffel zu Staffel (“MAD MEN). Im Verlauf der Staffel(n) wächst ein beinahe unaushaltbarer Druck im Inneren des Charakters. Irgendwann versucht dieser nur noch das lange aufgebaute Kartenhaus/ Lügengespinst nicht einstürzen zu lassen, was ihn auch bereit werden lässt, vermeintlich verrückte Dinge zu tun, um sich (und eventuell andere) zu schützen. Er/Sie isoliert sich mehr und mehr von seiner Umgebung, was zu noch mehr Konflikten führt. Ein Teufelskreis, mit einer starken Dynamik und einem lange währenden Geheimnis…
Hier ist natürlich die schauspielerische Umsetzung von zentraler Bedeutung, was zum Thema Geheimnis nicht unerwähnt bleiben kann.
Denn, wenn das Geheimnis nicht auf irgendeine Weise beim Spielen zumindest in mehreren Momenten “durchschimmert” wird schwerlich dauerhafte Spannung entstehen können. Die Widersprüche der Figur sollten in einer Serie beständig und auf eine subtile Art und Weise aufgebaut werden, auch abseits der offensichtlichen Zuschauer-Enthüllungen. (Mit offensichtlichen Enthüllungen meine ich zum Beispiel: wenn der Zuschauer in einem Moment ganz genau wissen soll, dass ein Charakter jemand anderen anlügt. Oder man ihm/ihr dabei zusehen soll wie sie ein wichtiges Objekt versteckt. Oder das eben Gesagte mit einem dazugehörigen Flashback nicht übereinstimmt usw.) Über die im Drehbuch angelegten Reveals hinaus kann man eine sehr einfache und wirkungsvolle schauspielerische Technik nutzen, um die Spannung die ganze Zeit zusätzlich aufrecht zu erhalten. Diese wurde von der Emmy nominierten Schauspielerin Kerry Washington in der Serie “Little Fires Everywhere” durchweg eingesetzt: Der Gedanke am Ende der Szene, d.h. die Sekunden nach der allerletzten Replik und Interaktion mit einem anderen Charakter. Ihr Gefühlsausdruck steht oft im Widerspruch zur (verbalen) Interaktion. In der Telenovela wird dieser Effekt über die Maßen eingesetzt, Figuren haben oft ein anderes Motiv als sie vorgeben. Aber bei “Little Fires Everywhere” wird eine etwas subtilere und abgeschwächte Form davon genutzt, die nicht noch dick mit Musik unterstrichen werden muss, damit auch jeder die damit bezweckte Irritation versteht.
Zusätzlich setzt Kerry Washington ihre Mikromimik ein, die zwischendrin immer wieder aufblitzt und so wiederum im Widerspruch zur Interaktion mit einer anderen Figur steht.
Durch diese ständigen, doppelten Botschaften, bleibt das Rätsel für den Zuschauer lange am Kochen und er/sie versucht fortwährend herauszufinden, welche Motivation genau hinter dem jeweiligen Verhalten einer Szene stecken könnte.
Wer ist hier das wirklich das Opfer und wer ist der Täter?
3) Stichwort PERSPEKTIVE: In einer komplexer werdenden Welt gibt sich ein stetig wachsender Teil der Zuschauer immer weniger mit einer einfachen Definitionen von Gut und Böse zufrieden. Viel spannender ist es natürlich heutzutage moralische Graubereiche auszuloten. Hier fragt sich der Zuschauer nicht mehr wer einfach nur “gut oder böse” ist, sondern wer ist “eher gut”, oder “eher böse”, und wo ist eventuell sogar sein eigener Platz auf dem Spektrum. Im Falle der Perspektive kann es in manchen Fällen Sinn machen eine Serie multiperspektivisch anzulegen und dabei den Protagonisten des einen Stranges, zum Gegner in einem anderen Strang zu machen und umgekehrt. Die so entstehenden eingeschränkten Perspektiven und Identifikationen erschweren es uns, klar auszumachen, wer im klassischen Sinne Opfer oder wer Täter ist. Man wird als Zuschauer die ganze Zeit auf Trab gehalten. Auf diese Weise erlangt man ein breiteres Gefühl für heutige gesellschaftliche Probleme. Man kann erleben, was der Grund für viele dieser Probleme ist – und empfindet dabei manchmal sogar als Einzelner eine eigene Verantwortung, die man so vorher vielleicht so nicht gesehen hat…